Samstag, 2. April 2016

Das Gewissen als Fremdkörper

Die Krux mit dem modernen Leben besteht doch vor allen Dingen darin, dass es eigentlich fast ständig nur um das Tun und Haben geht, selten aber, oder eigentlich fast nie um das Sein. Dabei ist das doch zweifellos das Wichtigste im Leben! Auch ohne gründliche Kenntnisse dieser Wissenschaft lassen sich diese drei Lebensbereiche sehr gut auf das dreigliedrige Seelenmodell der Psychoanalyse übertragen. Demnach wäre das Tun dem Über-Ich zugeordnet, denn die Gesellschaft erwartet von jedem Menschen stete Tätigkeit und zollt Achtung nur für erbrachte Leistungen. Das Haben gehört zum Es, dem egoistischen tierischen Unterbau der Seele. Jedoch ist nur das Sein mit dem eigentlichen Ich verknüpft, dem verborgenen vornehmsten Teil der Seele.
Wem es also darum geht, wahre Perfektion zu erreichen, der sollte weniger darüber nachdenken, was er dafür denn tun kann, sondern zuallererst einmal den Blick in sein Inneres richten und sich fragen wer und was er eigentlich ist. Denn alles Tun ist doch vergeblich, wenn ich innerlich morsch und faul bin. Meine guten Taten würden mir in einem solchen Falle zwar die Achtung meiner Mitmenschen einbringen, nicht aber etwas an meinem eigentlichen Sein verändern. Welchen Wert hat überhaupt eine gute Tat, die nicht aus vollem Herzen und tiefer innerer Freiheit geschieht? Ja ist sie dann überhaupt noch gut zu nennen? Das Problem besteht aus meiner Sicht in Folgendem: Handle ich aus meinem Gutsein heraus, also weil es mir ein inneres Bedürfnis ist, Gutes zu tun, dann mag es gut sein, dass von diesem Handeln eine Rückwirkung auf mein Sein ausgeht. Ich tue Gutes weil ich gut bin und bin gut, weil ich Gutes tue. Tue ich aber dieselbe gute Tat anstatt aus einem inneren Bedürfnis heraus einfach nur weil mein Gewissen, der verinnerlichte Teil meines Über-Ichs mir dies gebietet, so kann es doch gar nicht anders sein, als dass mein eigentlicher Wesenskern von dieser Handlung unberührt bleibt, da er ja gar nicht in sie involviert ist. In einem solchen Falle handle ich ja lediglich fremdbestimmt, ohne wirklich zu wollen, was ich da tue.
So wären zwar die auf solche Weise erbrachten guten Werke in sich nicht schlecht, doch es bliebe letztlich bei einem bloßen Habitus, einer wie einen Mantel übergestülpten Verhaltensweise.
Ich will mir gar nicht vorstellen wie viele tugendhafte Menschen es gibt, die ein Leben lang den Ansprüchen der Moral genügen, ohne sich jemals innerlich damit zu identifizieren. Wer aber fortgesetzt sein inneres, eigentliches Ich ignoriert und sei es auch in guter Absicht, der muss doch lanfristig zu einer leeren Hülle verkommen, die nur noch ausführt, was ihr von oben her vorgegeben ist. Ein solches Lebensmodell scheint für mich nicht erstrebenswert. Oder kann etwa Kadavergehorsam jemals etwas Gutes sein? Ob Gott solche Art von Gehorsam fordert, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen sagen: der Gehorsam macht frei. Dem würde ich entgegenhalten: Frei vom Es ja, also von den ungeordneten Trieben. Aber indem sie das Es ausschaltet ersetzt die Moral doch lediglich eine Unfreiheit mit einer anderen, zugegeben etwas nobleren. Ansonsten aber liegt es auf der Hand, dass ein Guter Mensch im moralischen Sinne nur dann frei genannt werden kann, wenn die Moral nach der er handelt mit seinen inneren Bedürfnissen zusammenfällt. Hier sind explizit die Bedürfnisse des Ichs gemeint, nicht die des Es. Da es aber einen solchen Menschen nicht gibt, der stets von Natur aus das Gute will, darf angenommen werden, dass es in der Praxis auf den Kadavergehorsam hinaus läuft, wenn man sich nach der Moral ausrichten will.
Eine Moral wäre an sich ja auch gar nicht notwendig, wenn die Menschen von Natur aus gut wären. So lässt sich also feststellen, dass man nicht gleichzeitig moralisch und natürlich sein kann, jedenfalls nicht in vollem Umfange. Es verwundert von daher wenig, dass diegleichen Leute, die jegliche Moral als restriktiv und konstruiert hinstellen auch dem Irrglauben anhängen, der Mensch sei von Natur aus gut.
Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma von Moral und Natur läge in einer erst noch zu ermittelnden Möglichkeit, auf das Sein eines Menschen positiv einzuwirken, oder aber in der Hoffnung, es könne eine Art unzerstörbaren Kern an Gutem in jedem Menschen geben, der nur freigelegt und gestärkt werden müsste. Doch ist das nicht auch schon wieder bloßes Wunschdenken? Es ist doch nur unser verinnerlichtes moralisches Gerechtigkeitsempfinden das uns sagt, dies müsse für alle gelten. Doch warum sollte die Natur, die ihre Flüche und ihren Segen bekanntermaßen sehr ungleich verteilt auf unsere Sentimentalität Rücksicht nehmen? Viel realistischer ist es anzunehmen, dass es eben gute Menschen und schlechte gibt und dann noch ganz viele irgendwo dazwischen. Anstatt in vergeblicher Liebesmüh die ganze Menschheit optimieren zu wollen, sollen unsere Herren Philanthropen ihre begrenzten Kräfte lieber darauf konzentrieren, denjenigen Teil der Menschheit auszumachen, der für solches Vorhaben überhaupt das Potential aufweist und mit dem Rest nicht mehr ihre Zeit verschwenden. Andererseits ist auch das schon wieder Wunschdenken, da es keine gesicherte Methode der Erprobung einer menschlichen Seele auf ihre Tauglichkeit gibt. Es gibt nur die Intuition des besonders begabten Einzelnen, der die Menschen liest wie Bücher. Doch wer dieses Talent besitzt und wer nicht, lässt sich endgültig nicht mehr objektiv feststellen. Von daher sind sämtliche Versuche einer Menschheitsverbesserung unverzüglich einzustellen. Gute und Schlechte hervorzubringen, sollte wieder dem Schicksal überlassen werden, dem man ohnehin nicht ins Handwerk pfuschen kann.