Samstag, 21. Juli 2018

Fragment #75

Wie viel schöner als die christliche Utopie vom Himmelreich ist doch die Jenseitsvorstellung der heidnischen Römer, wo die Toten aus dem Fluß Lethe trinken, um alles zu vergessen. Damit kann der gesunde, nüchternen Geist noch etwas anfangen. Welche Vermessenheit, als armer, nichtswürdiger Sterblicher nach ewiger Glückseligkeit, nach seine Vorstellungskraft übersteigender Verzückung, nach nie endender Ekstase zu verlangen! Wenn schon im Diesseits den hervorragendsten selbst das kleinste Glück von einiger Dauer verwehrt bleibt, wie töricht zu glauben, daß der Geiz des Gottes, der uns schon im Diesseits so mißgünstig ist, ganz unvermittelt verschwenderischem Großmut weichen sollte. Hingegen fehlt es im echten Leben nicht an Indizien für die Möglichkeit des Lethe. Das Alter geht meist mit geistiger Umnachtung einher. Die Greise verwandeln sich in Kinder zurück, manche gar in Säuglinge. Sie vergessen alles, bis hin zu ihrem eigenen Namen. Sind sie ein paar Schritte gegangen, finden sie nicht mehr zurück...