Dienstag, 12. Februar 2019

Alles ruhig an der Westfront

Der Krieg war nicht gut gelaufen in letzter Zeit. Soweit ich es von meiner Stellung aus beurteilen konnte, war die Befehlskette seit Längerem völlig zusammengebrochen. Auch die Kommunikationswege waren wohl gekappt, es wußte keine Einheit mehr, was die andere tat. Selbst über den ungefähren Frontverlauf gab es nicht einmal mehr Latrinenparolen. Es interessierte inzwischen aber auch keinen mehr. Dem Feind wiederum war es vor lauter Siegen wohl langweilig geworden, weshalb er es mit weiteren Offensiven nicht mehr eilig hatte. Nach der letzten, in deren Verlauf wir weit zurück gedrängt worden waren, hatte man mich von der Front weg zur Etappe abkommandiert. Meine Einheit war davor restlos zerschlagen worden, sodaß ich mich auf meinem neuen Posten unter lauter Fremden aller Waffengattungen wieder fand, deren Einheiten vermutlich alle nicht mehr existierten. Einquartiert waren wir in einem Landgut am Rande eines vom Kriege völlig unberührt gebliebenen Dorfes. Der Gründerzeitbau hatte mit seinen massiven Sandsteinmauern und dem großzügig umzäunten Areal fast schon etwas von einer Festung. Auch Wohnraum war mehr als genug vorhanden. Wie viele Soldaten hier insgesamt lebten, und ob es im Dorf noch weitere gab, wußte ich nicht. Man blieb ja unter sich in diesen letzten Tagen des Krieges. In meinem Falle hieß das, ich redete mit niemandem, was hätte es auch noch zu bereden gegeben, und verließ mein Feldbett nur für die notwendigsten Verrichtungen. Dere gab es freilich nicht viele, denn mein letzter Befehl, den ich vor Monaten erhalten hatte, war eben gewesen, in diesem Landgut Quartier zu beziehen, sonst nichts. Die ersten Tage nach meiner Ankunft hatte ich mit der Suche nach dem ranghöchsten Offizier verbracht. Ja, es waren tatsächlich Tage gewesen, zum Einen, weil zu dieser Zeit noch ein reges Kommen und Gehen geherrscht hatte, zum Anderen, weil ich von dem ewigen Schulterzucken, mit dem die Kameraden meine Frage nach dem Befehlshabenden erwiderten, schnell ermüdet war und also bald dazu über ging, jeden Tag nach dem Frühstück nur noch zwei, höchsten drei andere Männer zu fragen und mich den Rest des Tages von dieser Strapaze auf meinem Feldbett erholte, bis ich es schließlich ganz aufgegeben hatte, und nur noch unbeachtet dort herum lag, wie ein Invalider im Lazarett. Es gab auch schlichtweg keinen, an den ich mich hätte wenden können. Nicht einmal einen richtigen Wachtposten gab es. Was es gab, war ein Aschenbecher hinter dem schmiedeeisernen Hoftor, den irgend ein findiger Landser dort hingestellt hatte, sodaß sich fast rund um die Uhr ein paar rauchende Soldaten dort aufhielten. Öfters beobachtete ich aus dem zur Strasse gelegenen Fenster meiner Kammer, wie die Männer unbewaffnet ihren freiwilligen Posten bezogen. Dieser Schlendrian ärgerte mich ungemein, nicht zuletzt deshalb, weil ich selber gar keine Waffe mehr besaß. Die meisten Kameraden hier waren Panzergrenadiere, ausgestattet mit martialischen Uniformen, Stahlhelmen und vollautomatischen Waffen. Ich hingegen kam von der Luftwaffe, welche bereits zur Zeit meiner Einberufung keine handvoll intakter Flieger mehr besessen hatte. Als Luftwaffengefreiter war ich seit Kriegsbeginn lediglich mit einer hellblauen leichten Uniform und einer kleinkalibrigen Pistole minderster Qualität aus irgendwelchen Beutebeständen ausgestattet gewesen. Zum Einsatz war sie nie gekommen; denn das Kaliber war nicht kompatibel mit unserer Munition, und der Quartiermeister hatte mich auf meine Beschwerde hin mit der abschätzigen Bemerkung abgewiesen, was ich als Luftwaffenhelfer denn mit einer Pistole wolle. Irgendwann hatte ich sie einfach verloren und keinen Sinn darin gesehen, noch danach zu suchen.
Daß nun aber diese Raucher am Tor ihre wunderbaren, absolut tödlichen und einsatzbereiten Maschinenpistolen, Sturmgewehre und MGs, für die Munition selbst jetzt noch im Überfluß vorhanden war, einfach achtlos in der Stube liegen ließen, - mitten im Kriege! - das machte mich so über die Maßen verdrießlich, daß ich es bald vermied, noch aus dem Fenster zu schauen und schließlich den Rollladen auch tagsüber geschlossen ließ. "Für diese Männer", so dachte ich, "ist der Krieg nur eine Nebensache" - wenn nicht gar vorbei. Sie waren nicht feige, hatten an der Front durchaus ihren Mann gestanden, aber es fehlte ihnen an Leidenschaft. Befehle befolgten sie klaglos und zuverlässig - wenn es denn noch welche gegeben hätte - aber Eigeninitiative, das war offenbar schon wieder zu viel verlangt. Wenn sie da so rauchend und plaudernd im Kreise standen, mußte man sich nur die Tarnjacken wegdenken, und sie waren von Zivilisten durch nichts mehr zu unterscheiden. Manchmal fühlte ich mich wie in einer Jugendherberge aus friedlichen Kindertagen, was ein Grund mehr war, das Zimmer nicht zu verlassen. Bei mir selber verhielt es sich ja gerade umgekehrt zu den Rauchern am Hoftor. Eine Waffe besaß ich nicht, und meine Uniform trug ich bald nicht mehr, da ich ja doch kaum noch das Bett verließ. Und doch vergaß ich anders als diese Zivilistenseelen keine Sekunde lang, daß wir im Kriege waren, nicht einmal im Schlaf. Während es diesen stoischen Kerlen gleichgültig zu sein schien, ob sie gerade am Badestrand oder unter schwerer Artillerie lagen, quälte mich jeden Tag meine Nutzlosigkeit und ich hoffte wider alle Wahrscheinlichkeit, daß man mir doch noch eine MP und einen Stahlhelm geben und mich in die grosse Schlacht schicken würde. Von Tag zu Tag verdüsterte sich meine Laune dementsprechend und es wuchs in mir die Furcht, der Krieg könne ende ohne daß ich daran teilgenommen hätte. Da es absolut nichts zu tun gab, Zerstreuung meinem Pflichtgefühl zuwider gelaufen wäre, und mir die Gesellschaft jener, die das anders sahen, unerträglich war, wurde mir das ewige Warten bald zur Folter. Nur der Schlaf brachte Linderung. Im Traum lag ich immer an der Front. Also schlief ich irgendwann nur noch.

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