Donnerstag, 21. Januar 2016

Der ewige Jude

... ist nicht etwa der Name eines Goebbels -Films und auch kein antisemitischer Schimpfname, sondern eine uralte abendländische Sagengestalt die uns wie so viele Mythen etwas lehren kann, das über Schul- und Alltagswissen weit hinaus geht. Lange vor Satans Machtergreifung (Es soll sich tatsächlich schon vor 1933 Geschichte in Deutschland ereignet haben!) erzählten die Ammen ohne jede aufwieglerische Absicht ihren Schützlingen die Legende von Ahasver. Die geht in etwa so: Als Jesus nach Golgatha ging kam er am Haus eines Juden vorbei und bat ihn darum, an seiner Türschwelle rasten zu dürfen. Der Jude aber verspottete ihn nur. Daraufhin verfluchte Jesus ihn mit den Worten "Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen!". Seitdem muss der unsterblich gewordene Ahasver bis zum Ende der Welt ruhelos durch die Welt ziehen, ohne jemals halt zu machen.
Im Mittelalter hielt man den ewigen Juden für eine reale Person, die bald hier, bald dort gesichtet wurde. Es ist eigentlich klar ersichtlich, dass aus dieser Legende weniger Hass auf, als vielmehr Mitleid mit den Juden spricht. Was für eine symbolische Kraft! Ein entwurzeltes Volk, auf ewiger Wanderschaft, in alle Winde zerstreut, von Gott verstoßen wegen seines Unglaubens. Doch nicht nur zur Personifikation der Judenschaft taugt Ahasver. Findet man in diesem Bild nicht ganz eindeutig den ungläubigen modernen Menschen wieder? Auch wir haben Christus abgelehnt und verspottet. Auch wir haben in dieser Welt keine Heimat mehr, denn Vaterland ist uns zum Unwort geworden. Wir sind die wohl ruheloseste Zivilisation aller Zeiten. Eine Kultur der Hyperaktivität. Der moderne Mensch definiert sich selbst durch Tätigkeit. Dr. Faustus dichtet das Johannesevangelium um: "Im Anfang war die Tat". Niemand hat mehr für irgend etwas Zeit. Die wenige Zeit, die nicht für Arbeit oder Studium geopfert wird, muss akribisch verplant werden. Auch die Freizeit dient längst nicht mehr der Entspannung (also dem Nichtstun) sondern muss für all die Aktivitäten her halten, die unter der Woche zu kurz kommen. Am besten, so wird einem bisweilen geraten, man treibe in jeder freien Minute Sport. Und die Qualität einer Urlaubsreise wird schon längst nicht mehr an ihrem Erholungswert gemessen, sondern, wie sollte es anders sein, an ihrem Erlebnisfaktor. Möglichst viel sehen, möglichst viel machen. Spätestens seit fürsorgliche Mütter nur noch doofe Heimchem am Herd sind wissen wir, dass nur eines dem Menschen wirklichen Wert verleiht: Bezahlte Arbeit. 
Keine Frage, der moderne Europäer gleicht dem ewigen Juden in jedem Punkt: Spirituell und kulturell entwurzelt, ohne Ruhe und Rast, weder auf der Flucht, noch auf der Suche ist er zu immerwährender Tätigkeit verdammt, ohne damit jemals an ein Ziel gelangen zu können.
Woher kommt nur dieser Fluch, die Unruhe? Warum gelangt man im Leben nie an einen Punkt, ab dem man sagen kann "so soll es immer bleiben". Warum muss ich mich ewig selbst optimieren, immer nur lernen, besser, schneller, stärker werden? Wozu das alles? Es gibt kein wozu, weil es eben ein Fluch ist. Weil du musst, ist die Antwort, "du aber sollst gehen!".


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