Dienstag, 8. Dezember 2015

Von Freiheit und Hoffnung

Wenn es um die höchsten Güter geht, ist Freiheit immer einer der ganz heißen Kandidaten. Wer möche schon nicht frei sein? Auch und gerade im christlichen Glauben ist viel von der Freiheit die Rede. Christus predigt uns die Freiheit der Kinder Gottes, er ist gekommen, um den Gefangenen die Freiheit zu schenken. Sein Titel ist Erlöser (er löst von etwas). Nicht zuletzt macht die Theologie, genauer die christliche Ethik den freien Willen zur Bedingung unserer Erlösung, denn wenn diese nur dem Glaubenden zuteil werden kann, der Glaube aber in einer Entscheidung für Gott besteht, setzt sie notwendig eine Freiheit des menschlichen Willens voraus. Gerne wird diese grundlegende Willensfreiheit auch als Erklärung für Sünde und Leid heran gezogen, die als negative Konsequenzen derselben gedeutet werden, die Gott inkauf nehmen muss, wenn er von uns geliebt zu werden wünscht. Denn Liebe kann nur in Freiheit geschehen. Auch wird der freie Wille gerne als ein Hauptmerkmal angeführt, welches den Menschen im Unterschied zu den Tieren überhaupt erst ausmache. So gerne ich mich dieser christlichen Anthropologie auch anschliessen würde, die doch so edel erscheint, so schwer fällt es mir, ihre Aussagen mit meinen Erfahrungen und Beobachtungen in Einklang zu bringen.
Denn was bedeutet die Freiheit denn, die man der ganzen Menschheit hier so grosszügig unterstellt? Unbedingte Freiheit (alles tun zu können, was man will) kann es ja schon einmal nicht sein. Denn selbst den freiesten der Freien, den Reichen, sind zumindest im physikalischen Bereich doch sehr handfeste Grenzen gesetzt. Sie sind im wesentlichen nicht freier als alle anderen Menschen, nur verschiebt der Reichtum die Grenzen ihres Vermögens in einer Weise, dass sie sich recht komfortabel darin bewegen können. Genau wie wir Normalbürger sind sie eingepfercht, nur dass der Zaun so weit weg steht, dass für sie eine Illusion von Freiheit entsteht. Wir reden also von einer bedingten Freiheit. Wenn Freiheit aber bedingt ist, also relativ, besteht dann nicht die Möglichkeit, dass sie in der Praxis so weit reduziert werden kann, dass sie sich effektiv nicht mehr auswirkt, obgleich sie streng genommen noch vorhanden sein kann? 
Im christlichen Kontext, wie auch in der klassischen Ethik wird der Begriff Freiheit vor allem in Bezug auf das moralische Leben gebraucht. Frei ist demnach, wer sich gegen das von ihm als falsch erkannte und für das richtige, das Gute entscheiden kann. Das kann freilich auch ein Armer. Der kann sich im Zweifelsfall aufgrund seiner Rechtschaffenheit auch dagegen entscheiden, Essen zu klauen und diesem in sich schlechten Akt den Hungertod des Gerechten vorziehen. Worauf ich mit diesem reichlich geschmacklosen Beispiel hinaus wollte ist, dass im Leben Situationen eintreten können, die einen doch zumindest zum Unrecht nötigen, sodass es schließlich nicht mehr eine Frage des guten Willens, sondern der bloßen Selbstbeherrschung wird, ob man das Gute tut oder nicht. Aber gehen wir noch einen Schritt weiter. Wir stellen uns folgendes Szenario vor: Ein rechtmäßig Verlobter und an sich nicht völlig unanständiger Mann zeugt im Suff mit einer Zufallsbekanntschaft einen Bastard. Kann ja mal vorkommen. Nehmen wir einmal an, seine Verlobte wäre bereit, ihm zu vergeben und die Zufallsbekanntschaft macht eine Abtreibung von seiner Entscheidung abhängig, sie wäre überdies bereit, den Mann zu heiraten. Was soll er jetzt tun, um sich nicht noch weiter zu versündigen? Eine Abtreibung scheidet von vornherein aus, weil sie von allen denkbaren Alternativen das schlimmste Übel in sich birge. Verbleiben zwei Wege. Nämlich muss er nun entweder die Fremde ehelichen, um dem Sohn die Schande eines Dasein als Bastard zu ersparen und außerdem seiner Verantwortung als Vater gerecht zu werden, wobei er sich freilich an seiner Verlobten versündigen und außerdem das Sakrament der Ehe profanieren würde, da es keine Heirat aus Liebe wäre. Steht er aber zu seiner Verlobten, ruiniert er das Leben seines Sohnes da dieser entweder ohne Vater verbliebe, oder, wenn er ihn zu sich nähme nie seine leibliche Mutter hätte. Wir haben es also mit einem Dilemma zu tun, welche ja durchaus nicht nur in dem diffusen Gedankenlabyrinth eines irren abgebrochenen Theologen vorkommen, sondern eben auch in der Wirklichkeit. Die blosse Möglichkeit oder auch nur das ausnahmsweise Vorkommen eines moralischen Dilemmas verändert aber alles. Kompromisslösungen wie etwa eine Güterabwägung zwischen den Interessen der Beteiligten und der Grösse des jeweils entstehenden Schadens bringen hier auch nicht weiter. Solche Erwägungen sind nur Ausdruck des ohnmächtigen guten Willens. Ohnmächtig eben deshalb, weil sie sich vielleicht auf eine gute Absicht gründen mögen, ohne aber einen eindeutig guten Ausgang der Sache herbeiführen zu können. Nun hört man allenthalben, es käme in Fragen der Moral auch nur auf den guten Willen an. Gut wäre demnach nicht nur wer gutes tut, sondern auch wer das Gute bloß beabsichtigt, ohne es auch erreichen zu können. Doch was heißt das eigentlich: Etwas beabsichtigen? Liegt hierin etwa die ominöse Freiheit des Willens? Ist der Wille noch des Unfähigsten wirklich immer frei darin, sich für das Gute zu entscheiden, es also zu beabsichtigen? Dass Situationen auftreten können, in denen es unmöglich ist, das schlechthin richtige zu tun, haben wir bereits gezeigt. Was aber, wenn so eine Situation nicht nur einen Einzelfall, sondern das ganze Leben eines Menschen bedingen sollte. Dies könnte vielleicht dann der Fall sein, wenn die Ursachen seines Dilemmas nicht in veränderlichen äußeren Umständen, sondern in ihm selbst lägen. Die Ohnmächtigkeit eines Willens kann nämlich neben höherer Gewalt auch aus der Schwäche desselben resultieren. Wohl möchte ich vom Alkohol loskommen. Ich habe mich also gegen die Sucht entschieden. Doch was bringts, wenn die Sucht stärker ist als der Wille? Es ist eine durchaus bedenkenswerte Frage, ob man irgend einen Süchtigen dafür verantwortlich machen kann, wenn er süchtig bleibt. Falls ja, hieße das nichts anderes als ihn für die Schwäche seines Willens zu verurteilen. Denn nichts anderes ist Sucht: Schwäche des Willens im Hinblick auf eine bestimmtes Stimulans. Die allermeisten Süchtigen wären gerne clean, haben sich also in ihrem inneren gegen die Sucht entschieden. Macht sie das schon gerecht im Hinblick auf ihre Sucht? Ich glaube kaum. Sie sind in einem moralischen Übel gefangen und erleben sich selbst als unfähig, diesem Übel wirkungsvoll zu entsagen. Doch es wird noch schlimmer. Genau denjenigen Umstand, der sie in dem unmoralischen Zustand gefangen hält, würden manche ihnen zum Vorwurf machen - und zwar zurecht. Nämlich dass sie zwar clean werden wollen, aber eben nicht genug, also nicht richtig wollen. Wenn einer es sich in den Kopf gesetzt hat (oder es vielleicht von anderen in den Kopf gesetzt bekommen hat), ohne technische Hilfsmittel zu levitieren, mittels reiner Willens- oder Gedankenkraft (soll es ja übrigens wirklich geben), dabei aber gleichzeitig nicht abergläubisch ist, dies also nicht tut, weil er Geschichten  von irgendwelchen Fakiren oder Telepathen gehört hat, die er nachahmen wollte, sondern vielmehr in der Überzeugung, etwas zu versuchen, was noch kein Mensch vor ihm geschafft hat, wie wird es ihm wohl ergehen. Abhängig von seiner Geduld wird er früher oder später ermüden und sehr frustriert sein, bis er eines Tages zu der Überzeugung kommt, dass er es nicht kann. Da er aber nicht aus Aberglauben dieses Unterfangen auf sich nahm, sondern aus einer ungebrochenen Überzeugung heraus, dass der Wille alles vermag, wird er daraus nicht schliessen, dass es unmöglich ist, durch Willenskraft zu levitieren, sondern nur, dass sein Wille dafür nicht ausreicht. Die Erfahrung und die daraus resultierende Verbitterung tragen ihr Übriges dazu bei, diese Überzeugung in ihm zu verfestigen. Nach zehn oder zwanzig Jahren erfolgloser Levitationsversuche wird ihm die Insuffizienz seiner eigenen Willenskraft als so unumstößlich erwiesene Tatsache gelten, dass er sie wie einen (negativen) Glaubenssatz in seinem Herzen tragen wird. Der gescheiterte Fakir hat aber nun Freunde, die fest davon überzeugt sind, dass er des Schwebens fähig ist. Über all die vielen Jahre hinweg haben sie ihn angetrieben, es nur weiter zu versuchen, irgendwann müsse es klappen. Mit jedem weiteren Misserfolg sank sein Vertrauen in die Zusicherung der Freunde, er könne es doch, sodass er es schließlich nur noch aus reiner Loyalität weiter versuchte. Letztlich also aus gutem Willen. Nun mag er zwar noch den guten Willen besitzen, den Glauben seiner Freunde an ihn durch weitere Anstrengungen zufrieden zu stellen. Wie aber steht es mit seinem Guten Willen im Hinblick auf das Schweben selbst? Als er noch überzeugt gewesen war, dazu imstande zu sein, hatte er ihn wirklich. Doch jetzt, wo er durch jahrelanges auf der Stelle stehen vollständig entmutigt und desillusioniert ist, will er es im Grunde genommen gar nicht mehr. Nicht weil er es nicht für wünschenswert hielte, oder weil die Ermutigungen seiner Freunde ihn kalt ließen. Sondern einfach nur noch deshalb weil man etwas gar nicht ehrlich wollen kann, von dem man annimmt, dass man es niemals erreichen wird. Seine weiteren Schwebeversuche sind nur noch Ausdruck guten Willens, letztlich bloße Geste. Doch eben dieser demonstrative gute Wille ist im Kern nicht mehr ehrlich. Am Anfang hatte er sich entschieden, zu schweben, weil das Schweben ihm eine reale Option zu sein erschienen war. Jetzt, da er schmerzlich die unzureichende Stärke seines Willens erfahren hat, sich aber anhand der bereits geleisteten durchaus enormen Willensanstrengung ein etwaiges Bild von dem machen zu können glaubt, was ihm noch fehlt und daher die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens eingesehen hat, glaubt er nicht mehr wirklich an sich. Er tut nur noch so, als ob. Und eben darin liegt das Wesen des guten Willens im Unterschied zum wirklich freien: So zu tun, als ob. Man kann sich nicht für etwas entscheiden, das einem zu tun unmöglich erscheint. Die Freiheit des Willens besteht in der Minimaldefinition also darin, dass man immer so tun kann, als ob. Und das ist unehrlich. Wieder ein moralisches Dilemma. Wessen Wille nicht ausreichend ist, um Gutes zu bewirken, für den besteht noch die vornehmste Möglichkeit moralischen Handelns in der Unehrlichkeit. Das allen Menschen gemeinsame Mindestmaß an Freiheit besteht also in der Möglichkeit, gegen die eigene Überzeugung zu handeln zu versuchen, besser gesagt so zu tun, als ob man es versucht (denn um es wirklich zu versuchen müsste man ja daran glauben können, dass es möglich ist - und glauben kann schon wieder nicht jeder). Ein Verfechter des freien Willens würde mir nun entgegnen, der Glaube sei wie alles andere auch eine Frage des guten Willens, es bliebe also immer die Möglichkeit, es ohne Verstellung weiter zu versuchen. Doch was, wenn das Glauben gerade die Tätigkeit ist, an der sich der Willensschwache die Zähne ausbeißt? Dann bleibt ihm wirklich nur die Verstellung und es zeigt sich gleichzeitig, dass das Unvermögen zu Glauben die größtmögliche Unfreiheit erzeugt. 
Es sei denn, ja es sei denn, es gäbe eine dritte, bisher völlig unberücksichtigte Möglichkeit, nämlich die dass der Glaube etwas ist, das gar nicht durch Willensanstrengung erworben werden muss. Vielleicht ist der Glaube an das Übernatürliche selbst etwas übernatürliches. Am Ende ist gar die Frage, wodurch der Glaube bei einem Menschen letztlich zustande kommt gar nicht beantwortbar, weil sich ein Mysterium dahinter verbirgt? Dann, und nur dann gibt es Hoffnung für alle, auch für die Schwächsten. Wie begründet und vernünftig diese Hoffnung dann wäre, ist wieder eine andere Frage. Aber vielleicht muss Hoffnung gar nicht vernünftig sein?

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