Sonntag, 22. November 2015

Eine Zugfahrt

Sie sind laut, sie sind hibbelig, sie sind immer gut gelaunt, sie lachen und kichern, klappern mit den Deckeln der Müllbehälter, machen dumme Geräusche unterhalten sich entschieden zu laut - man muss sie einfach lieb haben. Einer raunt direkt hinter mir etwa 736mal hintereinander "Justin! Justin! Justin! Justin!..." Bis Justin ihm endlich Gehör schenkt. Eigentlich war dann aber gar nichts. Dabei sind die Jungs noch weniger nervig als die Mädel. Letztere halten sämtlich die unvermeidlichen Smartphones in Händen, deren erstaunlich kräftige Lautsprecher das gesamte Abteil gratis mit debiler "Charts"-Musik beglücken. Mit den Telephonen machen sie ununterbrochen Photos und kichern dabei, als wäre das irgendwie was verbotenes. Sämtlich sind die lieben Kleinen mit der bemerkenswerten Fähigkeit ausgestattet, sich quasi ununterbrochen bewegen zu können, ohne dabei jemals zu ermüden. Ein Knirps direkt neben mir demonstriert seine Kenntnis der Zahlen bis 113. Dann fängt er von vorne an. Das Spiel scheint großen Spaß zu machen, denn es findet immer mehr Nachahmer, sodass jetzt alle durcheinander bis 113 zählen. Der Bewegungsdrang dieser Kinder kennt keine Grenzen. Vielleicht ist der Sportunterricht an den Schulen doch keine so schlechte Idee. Erstaunt bin ich auch über die Stabilität der Scharniere der Abfallbehälter, die auch stundenlanger Misshandlung durch die Kinder wacker trotzen. Justin scheint in der Gruppe so eine Art Anführer zu sein, obwohl er zu den jüngsten gehört. Alle wollen ständig mit ihm reden. Und wenn sie nicht mit ihm reden, reden sie über ihn. Am liebsten sagen sie aber alle einfach laut seinen wohlklingenden Namen. Der Abfalldeckel machts jetzt wohl doch nicht mehr lange. Gerade als das Geklappere bedrohlich zu werden beginnt verlassen die Kleinen den Zug und ich hab meine Ruhe - nein hab ich nicht. Es stellt sich heraus, dass der Lärmpegel der Kinder nur die übrigen störenden Geräusche übertönt hat, die jetzt ihrerseits in den Vordergrund drängen. Ein Mann telephoniert sehr laut und schnell in einer ausgesprochen exotischen Sprache. Jetzt ist er fertig und verursacht stattdessen Geräusche mit seinem Telephon. Ah, er hat noch einen Sitznachbarn, mit dem kann man sich auch unterhalten und dabei weiter lustige Töne mit dem Handy machen. ... Jetzt endlich, ein kurzer Moment der Stille, nur ein paar Sekunden. Welch ein Glück dass wenigstens kein rücksichtsloser Asi mit Proll-Kopfhörer-Musik in der Nähe ist. Gut, was heißt in der Nähe. Sagen wir, ab 20 Metern Abstand nimmt man es nicht mehr so stark wahr. Ich frage mich schon seit langem, warum diese Leute Kopfhörer verwenden, wenn offensichtlich mehr Lautstärke nach außen, als ins Ohr dringt. Warum nicht gleich Lautsprecher verwenden. Jetzt haben zwei junge  Studentinnen hinter mir Platz genommen, deren Mitteilungsbedürfnis dem der kleinen Kinder in nichts nachsteht. 
Der Redefluss ist so ununterbrochen, dass gleichsam die eine redet, während die andere Luft holt. Irritierend an dem Gespräch ist die überwältigende Anzahl von Worten, die gebraucht werden, um absolut nichts auszusagen. Sie reden um des Redens willen. Die Themen sind so stereotyp und wiedererkennbar, dass man das Gefühl bekommt, bei jeder Zugfahrt neben denselben Studentinnen zu sitzen. Gut, jetzt sind sie auch wieder weg. Langsam entwickelt die Kopfhörer Prollmusik 20 Meter weiter doch eine gewisse Penetranz. Kann es Zufall sein, dass die Kopfhörer grundsätzlich um so lauter sind, je schlechter der Musikgeschmack des Trägers? Ich kann mich nicht erinnern, jemals im Zug Beethoven gehört zu haben. Zweifellos gibt es auch Beethovenhörer in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Doch besitzen diese offenbar einen gewissen Sinn für Rücksicht und Dezenz, der allen Hardrock- und Technospackos völlig fremd ist. Schade. Was ist überhaupt mit diesen Leuten los? Wie kann man sich selbst freiwillig mit diesem debilen Krach volldröhnen? Musik hat den Zweck, den Menschen zu erbauen, anzurühren, vielleicht auch zu beruhigen, oder zu euphorisieren. Doch in welchem geistigen Zustand muss man sich befinden, um Krach erbaulich zu finden? Oder sind das einfach Masochisten? Meine persönliche Vermutung geht dahin, dass diese akustischen Amokläufer aufgrund irgendwelcher schwerwiegender Fehlentwicklungen auf die geistige Stufe von Wilden herab gesunken sind, die eine tierische Lust an allem hässlichen, destruktiven empfinden. So wie ich  der guten alten Zeit nachtrauere, als es noch so etwas wie Umgangsformen gab, wünschen diese armen Irren sich die gute alte Steinzeit zurück. Die Verehrung der Wikinger, eines grausamen Volkes von Mördern und Räubern, oder der heidnischen Barbaren in der Metal Szene spricht Bände. Ich will mich jetzt hier aber nicht über einzelne Subkulturen auslassen, weil eine gewisse Gefahr besteht, dass ich mich dabei strafbar machen könnte. Stichwort "hatespeech". Eigentlich bin ich doch nur ein armer Kulturpessimist, der überall Dekadenz und Regress erblickt und selber noch mehr darunter leidet als die Betroffenen unter seinen bösartigen Kommentaren. Die Menschen sind eben wie sie sind und Leben ist nunmal laut. Vielleicht liegt das Problem auch einfach bei mir, weil ich die sonderbare Eigenart besitze, mich in ruhiger Umgebung wohler zu fühlen. Ich könnte mich doch ein bisschen anpassen und selbst meinen schuldigen Beitrag zur allgemeinen noise pollution leisten? Nein, da bleibe ich dann doch lieber ein Ewiggestriger mit einem Problem.

2 Kommentare:

  1. Diese detailgetreue, bildhafte Beschreibung, gepaart mit einem herrlich arroganten Unterton machen diesen Beitrag wirklich lesenswert. Hier wurde das, was die meisten von uns nur vor sich hin denken und ebenso schnell wieder verdrängen endlich mal ausgesprochen. Weiter so!

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  2. Ganz amüsant geschildert. Könnte es nicht sein dass noch mehr Menschen so denken?

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